Herkunft – Grenzerfahrungen in Ländereck
Reitinger Franz
Der moderne Mensch hat ein Recht darauf, nicht nur die genaue Herkunft von Gütern und Waren, sondern auch diejenige seiner selbst zu erfahren. Nur solange es diese für ihn gibt, kann er sicher sein, nicht gewerbsmäßig aus der Retorte auf den Weltmarkt geworfen worden zu sein.
Das einstige Kolonisierungsgebiet zwischen Donau, Großer Mühl und Böhmerwald gilt vielen auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als strukturschwaches, kulturarmes Grenz- und Hinterland. Wer bislang glaubte, dieser „unkomprimierte Raum“ (Sloterdijk) müsste deswegen gleich arm an persönlich erlebten und durchlittenen Geschichten sein, dem sei dieses Buch anempfohlen, das die wechselseitige Aufeinanderbezogenheit von Orten und Personen anhand von Briefen, Tagebüchern, Zeitungsartikeln und Prozessakten im Zeitraum dreier Jahrhunderte behutsam auseinanderlegt und dabei neue Schlaglichter, nicht nur auf zeitresistente Phänomene wie Auswanderung, Schmugglerwesen, Kriegsgefangenschaft, Schattenwirtschaft und Kinderverschickung, sondern auch auf die zyklischen Lebensformen keineswegs durchgehend einfacher Bauern, Bäcker, Müller, Schmiede und Gastwirte wirft.
Gerade in einer Zeit des Umbruchs stehen die Chancen gut, dass die Lektüre dieses Buches dem sich öffnenden Geist eine andere Sichtweise auf die Grenzökonomie des Granit- und Hügellandes, die Verwerfungen der historischen Erinnerung und vielleicht sogar auf sich selber zu vermitteln vermag, eine andere jedenfalls als jene, die im Zeitalter von Selbstoptimierung und raumverzehrender Seinsverflüchtigung – was könnte der Ausdruck „Virtualität“ bedeuten, wenn nicht dies – einzig möglich erschien.
Verlag Bibliothek der Provinz
2023
ISBN: 978-3-99126-152-0